Eine 100 prozentige deutsche Identitätskrise „Heute gibt es einen 100 Prozent Deutsch-Tag im Radio. Da dreh´ ich immer lauter. Das sollte ich jetzt besser heimlich hören, vielleicht mit Kopfhörern. Hinter vorgehaltener Hand kann ich es ja sagen: „In meinem Ort wurde eine „Nazi-Kirmes“ veranstaltet. Ein 100-Prozent-Deutsch-Abend. Rechtsradikaler geht es wohl kaum und ausgerechnet ich habe das angezettelt und fühle mich mit verantwortlich.“
Während ich die Kinder wecke und beginne Frühstücksbrote zu schmieren wettere ich und hoffe, dass sich der öffentlich rechtliche Rundfunk mit dieser Problematik auch intensiv auseinandersetzen musste. Noch drei Küsschen für die Kinder, eines links, eines rechts und eins für die Mitte: „Viel Spaß in der Schule.“ Jetzt erstmal in Ruhe einen Kaffee trinken.
Bereits vor der Veranstaltung schlugen Kirche und Politik Alarm. Der mahnende Zeigefinger wurde wieder erhoben. Ich habe eine schlaflose Nacht damit verbracht mich zu fragen, was genau da schief gegangen ist? Noch vor wenigen Wochen nach der Bundestagswahl war ich stolz auf meinen Ort. Nein, das darf ich jetzt so nicht schreiben. Ich ändere das ab, in: hoch erfreut
über das örtliche Wahlergebnis. Ich wohne in dem Ortsteil mit der größten Wahlbeteiligung (75 Prozent) und den wenigsten AfD Stimmen (nur ganz knapp 5 Prozent). Aber egal – ich bin ja gar nicht politisch – ich mag ja nur Musik!
Man kann sich über die Plakatwerbung streiten. Ob der Druck in Nationalfarben sinnvoll war? Nein – aus einem einzigen Grund: man konnte das Plakat schlicht und einfach schlecht lesen. Ich frage mich weiter, wie viele Gottesdienste werden zu 100 Prozent in deutscher Sprache abgehalten? Ich springe auf und krame mein evangelisches Liederbuch ganz unten aus dem Schrank. Sein angestammter Platz von Heiligabend bis Heiligabend. Ich schlage es auf und die Erleuchtung trifft mich. Arbeitet die Kirche womöglich immer noch mit meinem schlechten Gewissen? Und das ausgerechnet im „Lutherjahr“! Ich schmunzle über das alphabetische Verzeichnis der Lieder und lese unter A „Alles ist eitel (Kanon) – gehe weiter bis Z zu „zieht in Frieden eure Pfade“.
Ich spinne weiter meine Gedanken. Gestern war ich noch ein ganz normaler Bürger. Aber was wäre, wenn die Politik, die Kirche und die Medien im Gleichschritt nach links marschieren? Finde ich mich womöglich alternativlos rechts von ihnen wieder? Innerlich rufe ich ihnen nach: „Hey, ich war doch immer die Mitte! Jetzt habt ihr mich rechts gemacht.“ Etwas leiser und trotzig füge ich hinzu: „Hab ich erst gar nicht gemerkt, das ging aber schnell. Ich bin gar nicht politisch, ich mag doch nur Musik!“
Ich habe die Zeit vergessen, der Kartoffelsalat wird heute nicht mehr fertig, die Frankfurter halten noch bis morgen durch. Wo war nochmal das Blättchen vom Pizzalieferservice? Grün, weiß und rot – ich hab´s gefunden – die dürfen das! Da kommt mir ein ganz naiver Gedanke: „Wenn ich ab sofort nur noch Pizza Margherita bestelle, werde ich vielleicht als besserer Mensch die Welt – mindestens aber ein Schwein – retten. Ja, ich werde mich um mein Seelenheil in Zukunft besser bemühen müssen.“
Frotzeleien am Stammtisch Gestern beim Stammtisch frotzelte eine Freundin: „Jetzt wissen wir endlich, wer die rechte Stimme im Ort vertritt.“ Ich blicke finster drein und sinniere über meine eigenen Wurzeln. Meine Urgroßeltern flohen vor der Roten Armee. Meine Großeltern, geboren in Pommern, flohen in den Westen Deutschlands. Sie fütterten und melkten in aller Herrgottsfrühe ihre Kühe, zogen sich mehrere Lagen Kleidungsstücke an und verließen mit nichts als ein bisschen Geld und Brot ihre Heimat. Die Grenzkontrolleure ließen sie gehen, sie hatten ja noch ein kleines Baby zu Hause. Ihren Jungen hätten sie bei einer Fluchtabsicht sicher mitgenommen. Was die Grenzkontrolleure nicht wussten, das Baby war krank und verstarb einige Tage vorher.
Ihre nächste Zuflucht – das Ruhrgebiet. Dort wurde meine Mutter in den 50ern geboren. Seiner Berufung als Landwirt konnte mein Opa erst einmal nicht nachgehen und Zeit seines Lebens schämte er sich für die Berufsbezeichnung „
Beifahrer“ im Stammbuch. Um seine Familie ernähren zu können, konnte er nicht wählerisch sein. Ich halte die
Ausweise für Vertriebene und Flüchtlinge in der Hand. Meine Großeltern waren Refugees und wurden Immigranten. Ausgerechnet ihr Enkelkind wird jetzt in die rechte Schublade geräumt – wegen Musik.
„Hallo Jungs, da seid ihr ja wieder, wie war die Schule, schaut mal, es gibt heute Pizza –
Wonne, Wonne Jubilier. Nach dem Essen werden zackig Hausaufgaben gemacht, danach müssen wir noch das Laub zusammen rechen und dann könnt ihr spielen, bis das Fußballtraining losgeht.“ Mein jüngster: „Au ja! Da spielen wir wieder Pipi, ich bin der Negerkönig.“ Ich rolle mit den Augen. To-do-Liste, erster Punkt: den Kindern unbedingt erklären, dass man Negerkönig im Taka Tuka Land nur zu Hause spielen darf und auf keinen Fall anderen von dem Spaß erzählen sollte – gerade jetzt sehr, sehr grenzwertig. Halt! Moment mal, ich bin ja gar nicht politisch, ich mag doch nur Musik! Prompt rudere ich zurück und streiche die Liste. Wird uns zu sehr das Gedachte beigebracht und zu wenig das Denken?
Später beim Laubrechen ruft mein Sohn plötzlich: „Schaut mal schnell, ich hab einen Marienkäfer gefunden. So einen schönen habe ich ja noch nie gesehen. Der ist was ganz besonderes.“ Auf seinem kleinen Finger krabbelt der noch kleinere Käfer steif umher. Sechs Augen beobachten die Attraktion bis er seine Flügel aufspannt und wieder aus unserem Leben verschwindet. „
Maikäfer flieg …“
Liedtexte in meiner Muttersprache erschließen sich für mich einfach schneller.
Ich grübele weiter. Ich bin etwa zu einem Viertel Pole. Hups, das war jetzt aber rechtsradikal ausgedrückt, ist mir so rausgerutscht – Tschuldigung. Naja aber auch ein kleines bisschen mathematisch. Das Ergebnis stimmt vielleicht gar nicht. Ich habe nämlich keine Ahnung, wie man das genau ausrechnet. Ich habe mich damit noch nie befasst. Es geht mir ja auch nur um die Musik. Liedtexte in meiner Muttersprache erschließen sich für mich einfach schneller. Im Radio läuft „Bochum“. OK – Texte von Grönemeyer verstehe ich auch nicht gleich beim ersten Mal. Wie viel schwerer tue ich mir mit Texten in einer mir fremden Sprache?
„The ants are my friends, they’re blowin‘ in the wind!“
Das Radio summt weiter „…
bist ne ehrliche Haut…“. Ich male mir aus, ein halber Westfale zu sein, mütterlicherseits. Die erträumte Erkenntnis baut mich wieder auf. Der Westfale mit dem Herz am rechten Fleck…. Ich google das mal lieber: „Der Rheinländer zeichnet sich durch eine „
grobschlächtige Freundlichkeit aus“. Na ok, besser so als rechts
– „ein rauer, aber herzlicher Umgang der Menschen aller Rassen miteinander“. Das hört sich doch gut an! Ich spüre förmlich, wie sich mein gebeugtes Rückgrat begradigt. „….
Stolz auf regionalen Zusammenhalt.“ Oje, das ist jetzt wieder so komisch, das könnte man auch falsch verstehen….lieber wieder zuklicken. Das hat ja auch gar nichts mit Musik zu tun.
Fakt ist: um die Poesie von Texten in meiner Muttersprache erfassten zu können, muss ich sie nicht mühsam übersetzen. Da gibt es noch etwas zwischen Text, Melodie und Rhythmus. Ich will die Wortakrobatik und die Genialität von Reimen bei Bands wie der EAV genießen. Moment – jetzt bin ich fein raus. Die kommen gar nicht aus Deutschland! Nochmal Google an …. Mist! Österreich, daraus könnte man mir schon wieder einen Strick drehen. Auf Eiern tanzend weiter überlegen, ganz neutral bleiben. Ahhh die Jungs von Montreal. Die sangen mir kürzlich herrlich gut gelaunte „
120 Sekunden“ von ihrer „Schackilacki“ Platte zu! Ja, das geht. Ich mag die leisen Töne dazwischen und freue mich, wenn ich laut mitsingen kann: „…
man wer hätte das gedacht, dass es einmal so weit kommt wegen 99 Luftballons“. Das ist nur Musik!
Jetzt hätte ich auch fast das Fußballtraining noch vergessen. Ich rufe über zwei Stockwerke: „Jungs, auf geht´s! Fußballtasche packen und ab ins Auto.“ Auch hier treffe ich wieder den 100-Prozent-Deutsch-Tag. Während ich weiter meinen Gedanken nachhänge, spielen sie im Radio „
Chöre“ von Mark Forster. Von der Rückbank schallt es: „….und die Kohle ist für mich! Oho oho oho oho…..“
Durch die Windschutzscheibe schaue ich in einen diesigen Oktobernachmittag und lächle: „Ihr habt das nur falsch verstanden!“