DIE WAHRHEIT HINTER DEM JOHNSON-VORWURF
Wollte Scholz wirklich, dass die Ukraine verliert?
Dieser Briten-Vorwurf ist politischer Sprengstoff – und wurde von Berlin mit der Bazooka beantwortet.
Großbritanniens Ex-Premierminister Boris Johnson (58) hat Kanzler Olaf Scholz (64, SPD) vorgeworfen, dass die Bundesregierung zunächst eine schnelle Kriegsniederlage der Ukraine bevorzugte – anstatt einen langen Verteidigungskampf gegen Russland.
„Ich sage Ihnen etwas Schreckliches“, sagte Johnson im Interview mit dem US-Sender CNN. „Die deutsche Sicht an einem Punkt war: Wenn es passiert, dann ist es ein Desaster und es wäre besser, dass die ganze Sache schnell vorübergeht. Dass die Ukraine aufgibt.“
Johnson habe dies für eine „katastrophale Sichtweise“ gehalten, die er „nicht unterstützen konnte“. Deutschland habe „wirtschaftliche Gründe“ für die Haltung angeführt und diese erst später verändert.
▶︎ Heißt konkret: Johnson wirft Kanzler Scholz vor, dass die Bundesregierung es lieber gesehen hätte, dass die Ukraine den Krieg schnell verliert, anstatt sich lange gegen Russland zu verteidigen.
Kann das wirklich sein?
Regierungssprecher Steffen Hebestreit (50) wies Johnsons Behauptungen brüsk zurück. Der „sehr unterhaltsame frühere Premier“ habe „immer ein eigenes Verhältnis zur Wahrheit“ gehabt, dies sei „auch in diesem Fall nicht anders“. Johnsons Aussagen seien „utter nonsense“, sagte Hebestreit auf Englisch. Übersetzt heißt das: völliger Unsinn.
Als Beleg für die vermeintlichen Falschaussagen Johnsons verwies Hebestreit auf die berühmte „Zeitenwende“-Rede von Olaf Scholz am 27. Februar. Drei Tage nach dem russischen Überfall sagte der Kanzler im Bundestag, dass Deutschland eine „klare Antwort“ auf Russlands Angriff gegeben habe: „Wie Sie wissen, haben wir gestern entschieden, dass Deutschland der Ukraine Waffen zur Verteidigung des Landes liefern wird.“
Dass Deutschland der Ukraine nach Kriegsbeginn Waffen schickte, soll belegen, dass Scholz das angegriffene Land – anders als von Johnson behauptet – nicht verloren gab. Doch gegen diese Argumentation gibt es gewichtige Einwände.
Experte: Bundesregierung hat Ukraine unterschätzt
Die Waffen, die Deutschland in den ersten Kriegswochen an die Ukraine lieferte, waren „schultergestützte Waffen“, die „auch in einem Guerillakrieg einsetzbar“ gewesen wären, sagt Militärexperte Gustav Gressel (43) vom „European Council on Foreign Relations“, zu BILD.
Die Lieferung schwerer Waffen, mit denen die ukrainische Armee die Russen effektiv zurückschlagen könnte, lehnte die Bundesregierung lange ab, da Lieferung, Ausbildung und Logistik „zu lange“ dauern würden.
„Was verschwiegen wurde, war, dass das ‚zu lange‘ sich auf die erwartete Lebenszeit der Ukraine bezog“, sagt Gressel. Der Experte sieht diese Haltung der Bundesregierung bis heute kritisch. „Was mich damals aber schon störte, war, dass gar nicht daran gedacht wurde, dass es auch anders ausgehen kann.“
Fakt ist: Die Reden von Scholz und Johnson VOR dem Kriegsbeginn hätten unterschiedlicher nicht sein können.
▶︎ Am 19. Februar auf der Münchner Sicherheitskonferenz sprachen der deutsche Bundeskanzler und der britische Premierminister ausführlich über die Kriegsgefahr in der Ukraine. Scholz bezeichnete eine russische Aggression als „schweren Fehler“, den Truppenaufmarsch als „durch nichts gerechtfertigt“. Über eine militärische Unterstützung der Ukraine sagte Scholz nichts.
▶︎ Ganz anders Johnson. Der Brite erklärte, dass er „stolz“ sei, dass sein Land seit der russischen Invasion im Donbass 2014 bereits 22 000 ukrainische Soldaten ausgebildet und in den vergangenen Monaten „als Reaktion auf die Bedrohung zu den Nationen gehört, die defensive Waffen in Form von 2000 Panzerabwehrraketen“ an die ukrainische Armee geschickt hat.
Der britische Regierungschef sagte deutlich, dass ein schneller russischer Sieg gegen die Ukraine aus militärischen Gründen nicht wahrscheinlich sei. „Ich glaube, dass sich Präsident Putin und sein Kreis bei der Vorbereitung auf den Einmarsch in die Ukraine (...) deren Streitkräfte jetzt 200 000 Mann überschreiten und die heute wesentlich kampferfahrener ist als 2014, ernsthaft verkalkulieren.“
Schon Merkel überschätzte die Russen-Armee
Die Entscheidung der Bundesregierung, die Ukraine nicht mit Waffen zu beliefern, stammt noch von Scholz' Amtsvorgängerin Angela Merkel (68). Bis heute verteidigt die Alt-Kanzlerin die Politik damit, dass Waffenlieferungen an die Ukraine aufgrund der militärischen Überlegenheit der Russen nur eine geringe Wirkung gehabt hätten, Russland aber womöglich schon früher dazu veranlasst hätten, die gesamte Ukraine anzugreifen.
Der Geist von Merkels Politik überlebte ihre Amtszeit. Brigadegeneral a.D. Erich Vad (65), Merkels früherer Militär-Berater im Kanzleramt, erklärte auch nach dem russischen Überfall auf die Ukraine deutsche Waffenlieferungen für unnötig.
„Militärisch gesehen ist die Sache gelaufen. Und meine Bewertung ist, dass es nur um ein paar Tage gehen wird und nicht mehr“, sagte Vad am 24. Februar, als er zwar nicht mehr die Regierung beriet, aber ein gefragter Experte war. Wochen später argumentierte er gegen die Lieferungen von Kampf- und Schützenpanzern. Dies sei „militärisch unsinnig“, die Technik wäre zu spät da.
„Ich denke, Putin wird diesen Krieg gewinnen, weil die russischen Streitkräfte modern sind, gut ausgestattet sind, eine vielfache Überlegenheit haben“, so Vad.
CDU kritisiert Scholz – aber auch Merz lag daneben
CDU-Außenpolitiker Johann Wadephul (59) sagte zu BILD, dass die deutsche Regierung „von Beginn an die militärische Stärke Russlands überschätzt und die Verteidigungsfähigkeit der Ukraine unterschätzt hat“. Dies sei „über Monate hinweg der Grund dafür, dass die Bundesregierung der Ukraine viel zu zögerlich und ungenügend mit Waffenlieferungen zur Seite gestanden ist“.
Mit dieser Einschätzung war die Bundesregierung allerdings nicht allein. Im BILD-Interview am Tag des russischen Überfalls sagte CDU-Chef Friedrich Merz (67), dass der Zeitpunkt für deutsche Waffenlieferungen, „wenn er überhaupt jemals da war (...) verstrichen“ sei. Das Problem „lässt sich jetzt nicht mehr mit Waffen lösen“. Die russische Armee habe eine Million Soldaten unter Waffen, eine militärische Lösung sei deshalb „ausgeschlossen“.
Fazit: Die zögerlichen Waffenlieferungen deuten darauf hin, dass die Bundesregierung von Olaf Scholz – genau wie viele andere Regierungen – davon ausging, dass die Ukraine nicht in der Lage sein würde, sich langfristig gegen die russischen Streitkräfte zu verteidigen. Anders als andere Regierungen (z.B. USA, Großbritannien, Polen) verweigerte Berlin der Ukraine jedoch noch monatelang die Lieferung schwerer Waffen.
Auch in der großen „Zeitenwende“-Rede sprach Scholz nicht davon, die Ukraine in einem langen Krieg gegen Russland unterstützen zu wollen. Erst später, als die Ukrainer die Russen bei Kiew geschlagen hatten, begann Scholz davon zu sprechen, dass Russland den Krieg nicht gewinnen dürfe, dass die Ukraine „so lange wie nötig“ unterstützt werde.
Die Frage, ob die Bundesregierung zu Beginn des Russen-Überfalls eine schnelle Niederlage der Ukrainer gegenüber einem langen Abwehrkampf bevorzugte, bleibt offen. Wie BILD aus Regierungskreisen erfuhr, rechnete die Bundesregierung bis zum Tag der Invasion nicht mit einem russischen Angriff. Trotz Warnungen westlicher Geheimdienste, unter anderem aus den USA und Großbritannien.
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