02.10.2015
Ein Flüchtling aus Syrien findet 1000 Euro auf der Straße und übergibt das Geld der deutschen Polizei.
Mahmoud Abdullah, Flüchtling aus Aleppo, war gerade auf dem Weg zum Supermarkt, als er in den Straßen von Alsdorf, Großraum Aachen, eine seltsame Entdeckung machte. Er wollte einkaufen, für sich und die anderen Männer im Flüchtlingsheim, da sah er, mitten auf dem Fußgängerweg, ein leuchtend blaues Büchlein liegen.
Mahmoud Abdullah blickte sich um, wer es verloren haben könnte, und als er niemanden sah, hob er es auf. Er versteht kaum Deutsch, die Aufschrift "Sparbuch" sagte ihm nichts, aber als er es öffnete, lag Bargeld darin: zweimal 500 Euro in geglätteten Scheinen.
Für einen Augenblick, sagt Abdullah, glaubte er an Glück, an ein Zeichen, dass Gott ihm helfen wollte. Er stellte sich vor, was sich mit so viel Geld anfangen ließe, aber dann, so erzählt er, dachte er an den Menschen, dem es gehörte, und daran, wie es sich anfühlt, alles, was man hat, zu verlieren. "Keiner", sagt Abdullah, "kennt dieses Gefühl so gut wie ich."
Mahmoud Abdullah ist 31 Jahre alt, ein kräftiger Mann mit leiser Stimme und einem Gesicht, das viel älter wirkt. Er sitzt auf einem Stockbett in einer Alsdorfer Flüchtlingsunterkunft, einem heruntergekommenen Wohnhaus, und erzählt seine Geschichte. Ein Zimmernachbar aus Damaskus hilft beim Übersetzen.
Noch vor einem Jahr um diese Zeit lebte Mahmoud Abdullah nicht in Alsdorf, sondern im syrischen Aleppo. Es war seine Heimat, die Stadt seiner Geburt, jener Ort, sagt er, an dem er einst alles hatte: ein eigenes Zuhause, eine Familie, Freunde, "ein gutes Leben".
Seit seiner Jugend war Abdullah Installateur für Elektrotechnik. Er arbeitete hart und baute mit den Jahren seine eigene kleine Firma auf. Drei Angestellte und ein Laden, dessen Schild seinen Namen trug, das Geschäft gab ihm den Mut, sagt Abdullah, "die schönste Frau der Stadt zu erobern". Ihr Name ist Shirin, sie arbeitete als Schneiderin in derselben Straße, und Abdullah warb so lange um ihr Herz, bis sie ihn heiratete. Sie zogen gemeinsam in ein Haus, bald danach wurde ihre Tochter Ela geboren. Das Mädchen kam in einer Nacht im Juli 2012 zur Welt, nur wenige Tage bevor der Krieg Aleppo erreichte.
Die Armee der syrischen Regierung und die Freie Armee der Rebellen, sie verwandelten die Stadt bald in ein Schlachtfeld, und Mahmoud Abdullah erzählt, wie die Zerstörung auch in sein Leben kroch.
Es begann mit dem Geschäft. Von einem Monat zum nächsten machte es keinen Umsatz mehr, weil sich keiner seiner Kunden noch auf die Straße traute. Wo Kinder einst Fangen gespielt und Händler ihr Gemüse verkauft hatten, sagt Abdullah, kreisten bald nur noch Hunde um die Überreste getöteter Menschen.
Eingekesselt in ihr Viertel, erlebte Abdullahs Familie zwei Jahre lang den Krieg vor der eigenen Haustür, die Gewalt, den Hunger, die tägliche Angst. Es war ein Morgen im vergangenen Sommer, als eine Bombe auf das Haus ihrer Nachbarn fiel und Mahmoud Abdullah verstand, dass er mit Frau und Kind die Flucht riskieren musste, um am Leben zu bleiben.
Sie verließen ihre Heimat und zogen nach Afrin, eine kleine Stadt nahe der türkischen Grenze. Aber auch dort waren sie nicht sicher, also beschloss Abdullah, sich allein nach Europa durchzuschlagen, um einen Antrag auf Asyl zu stellen und seine Familie so bald wie möglich nachzuholen. Zusammen mit anderen jungen Männern gelangte er zunächst nach Istanbul, dann, über Bulgarien und weitere Länder, die er nicht kannte, bis nach Deutschland.
In Dortmund angekommen, wurde er als Flüchtling anerkannt und erhielt später einen Unterkunftsplatz in Alsdorf. Er suchte Hilfe für seine Familie bei den Behörden, aber der Handykontakt zu seiner Frau riss immer häufiger ab. Bald verlor sich ihre Spur. Mit jedem Tag, an dem er nichts mehr von ihr hörte, sagt Abdullah, schwand auch seine Hoffnung, sie und seine Tochter jemals wiederzusehen.
Es war genau jene Zeit, als Mahmoud Abdullah glaubte, alles in seinem Leben verloren zu haben, da entdeckte er das Sparbuch mit dem Geld auf der Straße. 1000 Euro, das war fast das Dreifache von dem, was er monatlich vom deutschen Staat bekam. Was macht man damit?
Abdullah ging noch am selben Tag zur nächsten Polizeiwache und gab das Sparbuch mit dem Geld ab. Bald darauf meldete sich der Besitzer des Sparbuchs, er wollte einen Finderlohn zahlen, aber Abdullah lehnte das Angebot freundlich ab. Da, wo er herkomme, sagt er, sei man nicht ehrlich, um eine Belohnung zu bekommen, "sondern um ein guter und gerechter Mensch zu sein". Mahmoud Abdullah hatte wenig Grund, an Gutes zu glauben oder an Gerechtigkeit, als er sich, im tiefsten Tal seines Lebens, als ehrlicher Finder erwies. Er konnte nicht ahnen, dass zur gleichen Zeit, mehr als 3000 Kilometer weit entfernt, im Süden der Türkei, seine Frau Shirin und seine Tochter Ela auf dem Weg nach Europa waren.
Während sich ein deutscher Sommer dem Ende neigte und Lokalzeitungen über Abdullahs Schicksal berichteten, überquerten sie in einem Schlauchboot die Ägäis, legten Strecken ohne Wasser oder Nahrung zurück, die Tage dauerten, zu Fuß und in fensterlosen Bussen; wie durch ein Wunder blieben sie am Leben. Schließlich erreichten auch sie Alsdorf bei Aachen.
Mahmoud Abdullah hat seine Heimat verloren, seine Freunde, seine Arbeit und sein Haus, aber er sagt, er habe sich nie reicher gefühlt als in diesem Moment.
Von Claas Relotius
http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-139095787.html