Geheime Dokumente zeigen, wie die EU die Biontech-Zulassung verzögerte und warum Deutschland so wenig Impfstoff bekam
Die Maschine der Fluggesellschaft United Airlines hebt am 27. November 2020 vom Flughafen Brüssel ab. Ihr Ziel: Chicago O´Hare Airport. Es ist ein historischer Flug. Denn es handelt sich um den ersten Massentransport von Impfstoff. An Bord befinden sich Millionen Dosen des neuen Covid-19 Vakzins von Biontech und Pfizer. Das deutsche Unternehmen und sein US-Partner stehen zu diesem Zeitpunkt kurz vor der Zulassung.
Schon bevor die Behörden weltweit grünes Licht geben, haben Biontech und Pfizer erhebliche Mengen des begehrten Impfstoffs produziert. Die Welt reißt sich um die Biontech-Erfindung. In einem Pfizer-Werk im belgischen Puurs werden zu diesem Zeitpunkt Dosen für die ganze Welt hergestellt, auch die der EU und damit auch jene für Deutschland. Nur die USA und China sollen ihren Impfstoff eigentlich aus anderen Produktionsstätten erhalten. Doch nur wenige Wochen vor dem Impfstart werden am 27. November Millionen Dosen aus Europa in die USA geflogen.
In diesen turbulenten Novembertagen geht die Geschichte von den ausgeflogenen Impfdosen, über die das “Wall Street Journal” berichtet, ziemlich unter. Aber warum flog das deutsche Vorzeige-Unternehmen Biontech mit seinem Partner Pfizer die kostbare Ware aus Europa aus, sodass auch Deutschland in der wichtigen ersten Phase des Impfens weit weniger Vakzin zur Verfügung stand?
Gravierende Fehlentscheidungen getroffen, wichtige Zeit verloren
Business Insider liegen umfangreiche Dokumente vor, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind und die auf diese Frage eine ernüchternde Antwort geben. Es handelt sich um interne Schreiben von Biontech und Pfizer sowie vertrauliche Berichte der Europäischen Arzneimittelbehörde EMA. Alles dreht sich dabei um die Zulassung des Impfstoffs in dieser heißen Phase am Ende des vergangenen Jahres. Wochenlang hat Business Insider die Dokumente ausgewertet. Das Bild, das sich aus den Unterlagen ergibt, ist für die EU verheerend: Demnach haben die EU-Behörden nicht nur beim Bestellen des Impfstoffes gravierende Fehlentscheidungen getroffen, sondern auch bei der Zulassung wichtige Zeit verloren.
Biontech hatte stets durchblicken lassen, dass diejenigen Länder vorrangig mit Vakzindosen beliefert werden, die als erste zulassen und als erste bestellen. So stand für die Unternehmen bereits am 25. November fest, dass ihre in Puurs hergestellten Dosen in die USA geliefert würden und nicht nach Europa. Denn während die amerikanische Zulassungsbehörde FDA sich gegenüber den Impfstoff-Pionieren zu diesem frühen Zeitpunkt bereits auf den 11. Dezember für eine Notzulassung festgelegt hatte, stellte die EMA noch ihren finalen Mängelbericht zusammen. Diese Verzögerung um einige Wochen hatte weitreichende Konsequenzen für die Verteilung der knappen Impfdosen, den Goldstaub in der Pandemiebekämpfung. Impfstoff wurde aus Europa ausgeflogen, weil die EU die Zulassung vertrödelte.
Aus dem Bericht der Rapporteure der Europäischen Arzneimittelbehörde EMA geht hervor,
dass das Verfahren für die Zulassung des Biontech-Impfstoffs im November und Dezember 2020 in die Länge gezogen wurde, während Länder wie Großbritannien und die USA rasch handelten.
Der Bericht mit der Kennung EMEA/H/C/005735/RR des Schweden Filip Josephson und seines
französischen Kollegen Jean-Michel Race, die das BioNTech-Vakzin für die EMA geprüft haben, enthält einen sehr umfangreichen Fragenkatalog sowie Einwände zur Produktionsqualität des Impfstoffs. So stelle unter anderem das belgische Pfizer-Werk in Puurs ein Problem dar. Dieser Produktionsstandort sollte neben einem US-Werk in Kalamazoo in Michigan in großem Maßstab Impfstoff herstellen.
Diese erste Version des Berichts der zwei Rapporteure ist auf den 19. November 2020 datiert. Im Rahmen des Schritt-für Schritt-Zulassungsverfahrens (Rolling Review) gilt dieser Report als wesentlicher Meilenstein. Er bildet die Grundlage für das wichtigste Zulassungsmeeting der EMA, bei dem die Entscheidung über eine bedingte Zulassung für den weltweit ersten Impfstoff gegen Covid-19 fallen sollte. Die zahlreichen enthaltenen Fragen und Forderungen nach weiteren Daten und Analysen an Biontech und Pfizer waren mitentscheidend dafür, dass die EU-Zulassung später kam als ursprünglich erwartet.
Die Zeit drängt, aber die EMA stellt Fragen über Fragen
Statt angesichts der Notsituation auf ein möglichst rasches Verfahren zu setzen, beharrten die Europäer auf Kleinteiligkeit. Der Bericht der Rapporteure in der Fassung vom 30. November listet unter Kapitel 5 noch immer seitenlang Fragen und Einwänden an die Hersteller auf. Er verliert sich in Detailfragen und erweckt den Eindruck, die Dringlichkeit der Notsituation nicht richtig eingeschätzt zu haben. Ende November hatte diese Zeit eigentlich niemand. Jede Woche bis zum Impfstoff zählte. Jede Woche kostete Leben, vor allem bei den vulnerabelsten Menschen, den über 80-Jährigen.
Die Einwände der Berichterstatter waren vielfältig: Beim Pfizer-Werk im belgischen Puurs vermerkt der Bericht etwa spezifische Bedenken zur Qualität des dort hergestellten Impfstoffs. „Die Vergleichbarkeit zwischen dem klinischen und dem kommerziellen Material wurde noch nicht gezeigt“, heißt es da etwa. Der Bericht wirft zudem die Frage auf, ob die Qualität des Impfstoffs aus Puurs mit dem aus der Mainzer Biontech Produktionsanlage vergleichbar ist. Die EMA verlangte weitere aufwendige Analysen, welche die Vergleichbarkeit der Impfstoffe besser belegen sollte.
Dabei geht es im Kern vor allem darum, dass die sogenannte RNA-Integrität der Impfstoffe aus dem Werk in Puurs aus EMA-Sicht nicht ausreichend ist.
Zur Erklärung: RNA ist in etwa so fragil und instabil wie die Blüte des Klatschmohns. Kaum aufgeblüht, verliert die Blüte einzelne Blätter. Der kleinste Windhauch, der die Pflanze schüttelt, oder eine leichte Berührung, können die Ursache für den Verlust sein. Um in der Sprache der Molekularbiologie zu bleiben: Der Mohn blüht weiter, aber die Blüten-Integrität liegt dann vielleicht nur noch bei 70 Prozent. Ähnlich ist es bei RNA. Das Botenmolekül ist derart anfällig, dass die RNA-Integrität nie 100 Prozent beträgt. Der höchste Wert einer Charge aus dem Biontech-Werk in Mainz, in dem die Dosen für die Patienten-Studien hergestellt wurden, lag bei 81 Prozent, der niedrigste bei kaum mehr als 60 Prozent. In Puurs lag sie zu Beginn der Massenproduktion im Sommer bei einigen Chargen lediglich bei 51 und 52 Prozent. Allerdings kann bei jedem Schritt in der Produktions- und Logistikkette die RNA leiden. Deswegen muss der Impfstoff wie ein rohes Ei behandelt werden. Er muss ultratief gekühlt und darf nach dem Auftauen zum Beispiel nicht stark geschüttelt werden.......Ein Insider spricht angesichts der Mängelliste von Schikane....„Tausende Menschen, die nicht hätten sterben müssen, sind dadurch ums Leben gekommen”
Scharfe Kritik am Vorgehen der EMA übt Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki (FDP): “Die EMA hat offenbar nicht so gehandelt, wie es einer absoluten Ausnahmelage entsprechen muss. In Pandemiezeiten muss zügig und entschlossen vorgegangen werden, und nicht nach den gängigen Vorschriften und dem Motto: Wir machen es wie immer! Vor allem das Beispiel Israel zeigt, was schnelles Handeln bedeuten kann. Die EU hat hingegen beim Impfstoff erst eine miserable Bestellung abgeliefert. Dann ist bei der bürokratisch-unsinnigen Zulassung leider wichtige Zeit verloren gegangen, mit fatalen Folgen für Europas Impfstoff-Versorgung.
Tausende Menschen, die nicht hätten sterben müssen, sind dadurch ums Leben gekommen.” .......
https://www.businessinsider.de/polit...fstoff-bekam-f