Hilfe, «Impfstoffnationalisten»! Wie deutsche Politiker und Kommentatoren versuchen, Kritiker verächtlich zu machen
Wer es wagt, die Impfstrategie von Kanzlerin Angela Merkel und EU-Kommissions-Präsidentin Ursula von der Leyen infrage zu stellen, wird als Antieuropäer verunglimpft. Der Vorwurf ist anmassend, und er spaltet die gereizte Gesellschaft nur noch weiter.
Den kategorischen Imperativ ihres Regierungshandelns hat Angela Merkel oft ausgesprochen: Deutschland gehe es nur gut, wenn es Europa gut gehe – und mit Europa ist bei ihr die Europäische Union gemeint. Getreu diesem Motto beschwor die Bundeskanzlerin in der Migrationskrise selbst dann noch eine europäische Lösung, als diese illusorisch geworden war, auch aufgrund von Merkels eigenem Handeln. Im Sommer 2020 dann lautete der Satz der Kanzlerin: «Was gut für Europa ist, war und ist gut für uns.» Deutschland dürfe in der Coronavirus-Pandemie «nicht nur an sich selbst denken». Ein halbes Jahr später wächst die Erkenntnis, dass es Deutschland gut zu Gesicht gestanden hätte, etwas mehr an sich selbst und deutlich mehr an die eigene Bevölkerung zu denken. Dann wäre der Impf-Schlamassel vermutlich ausgeblieben.
Länder dürfen eigene Interessen verfolgen
Die Zahlen sind für keinen verantwortlichen Politiker ein Ruhmesblatt: Deutschland rangiert bei der Impfquote pro Kopf der Einwohner weltweit derzeit auf dem neunten Platz – der Abstand zu den vier führenden Nationen Israel, Bahrain, Grossbritannien und den USA ist riesig. Es gibt zu wenig Dosen, zu wenig Personal, zu wenig Termine, obwohl die Kanzlerin und ihr Gesundheitsminister gerne vermerken, dass mit dem Produkt von Biontech ein «Impfstoff made in Germany» gefunden worden sei. Warum dann die schlechte Verteilungs- und Versorgungslage, die dadurch nicht besser wird, dass sich in vielen anderen Ländern, etwa der Schweiz, ebenfalls Unmut regt? Die deutsche Regierung reiht sich lieber in die Warteschlange ein und lässt anderen Staaten den Vortritt, als sich den Vorwurf des «Impfstoffnationalismus» gefallen lassen zu müssen. Mit dem polemischen Wort wird der Normalfall zum Verdammungstatbestand entstellt: dass ein Land eigene Interessen artikulieren und verfolgen darf, ohne deshalb gleich zum rücksichtslosen Hasardeur zu werden.
Führende deutsche Politiker und zahlreiche Kommentatoren fremdeln mit einem solchen, in anderen Ländern völlig selbstverständlichen Pragmatismus. Merkel lobte noch Mitte Dezember «die Bestellung der Europäischen Kommission bei sechs Herstellern» als Muster europäischer Zusammenarbeit. Für die «Koordinierung bei den Impfstoffen» gratulierte die Kanzlerin der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Auch die SPD in Gestalt ihrer Gesundheitsexpertin Sabine Dittmar sah im Umstand, dass der Impfstoff «durch die EU-Kommission zentral beschafft und verteilt wird, einen grossartigen Beweis für die europäische Solidarität». Hätte man das Heft des Handelns nicht komplett in die Hände der EU gelegt, wäre Deutschland als «Impfstoffnationalist» erschienen. Davor warnte Frank-Walter Steinmeier im vergangenen Oktober.
Der Bundespräsident führte den Begriff in die Arena
In seiner Rede zur Eröffnung des Weltgesundheitsgipfels führte der deutsche Bundespräsident das böse Wort in die Arena. «Wenn wir», erklärte der Präsident, «nach der Pandemie nicht in einer Welt leben wollen, in der der Grundsatz ‹jeder gegen jeden und jeder für sich› noch mehr Raum greift, dann müssen wir die Pandemie mit einem Geist der Zusammenarbeit überwinden, nicht im Geist des Impfstoffnationalismus». Die Alternative ist jedoch falsch gestellt, das Urteil schief und der Begriff anmassend: Eine Pandemie sollte wie jedes Naturereignis nicht instrumentalisiert werden, um politischen Programmen zum Durchbruch zu verhelfen. Eine Pandemie sollte mit wirksamen Gegenmitteln bekämpft werden, nicht mit moralischen Dienstanweisungen von hoher Warte. Und man ist auch nicht Nationalist, wenn man die eigene Regierung kritisiert. Diese absurde Entwicklung hat die Debatte mittlerweile genommen.
Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet verkündete Mitte Dezember, «in Europa und ausserhalb Europas» werde Deutschland «beneidet, gerade auch in der Pandemie». Das Recht, andere Länder neidisch zu machen, diese verdruckste Form des Nationalstolzes, kassierte Laschet nun wieder. Er sei «gegen jede Form von Impfstoffnationalismus. Es ist gelungen, das Vakzin in der EU gerecht zu verteilen, und jetzt dürfen wir den globalen Süden nicht vergessen.» Keine Rede war da mehr vom Beitrag deutscher Forscher und deutschen Steuergelds an der Impfstoffentwicklung, keine Rede auch von den Verteilungsschwierigkeiten innerhalb der EU, die im Wesentlichen die Kommission zu verantworten hat. Um jeden rhetorischen Preis soll die EU von Vorwürfen reingehalten werden – und sei es mit dem Holzhammerwort vom Impfstoffnationalismus.
Niemand weiss, wie die Welt nach der Pandemie aussehen wird. Vielleicht wird sie sich gar nicht so sehr von der Welt vor der Pandemie unterscheiden. Vielleicht aber wird es eine Welt sein mit einem tiefen Graben zwischen Staat und Gesellschaft, weil in der Pandemie Kritiker der Regierung zu schnell und mit immer schrilleren Tönen beschimpft worden sind.
https://www.nzz.ch/meinung/hilfe-imp...den-ld.1594826