Aktueller Begriff
Die Anwendung der Scharia in Deutschland
1. Begriff und Geltung der Scharia
Scharia ist die arabische Bezeichnung für islamisches Recht. Darunter versteht man das religiös
begründete, auf Offenbarung zurückgeführte Recht des Islams. Neben Rechtsgebieten wie dem
Privat- und Strafrecht beinhaltet die Scharia der Idee nach die Gesamtheit der aus der Offenba-
rung zu gewinnenden Normen für das Handeln der Menschen im Verhältnis zu Gott und zu seinen
Mitmenschen. Die Scharia unterscheidet zwischen religiösen Vorschriften, die das Verhältnis zu
Gott (Beten, Fasten etc.) regeln, und rechtlichen Vorschriften für das Handeln der Menschen
untereinander (Vertragsrecht, Familienrecht, Strafrecht etc.).
Bis ins 19. Jahrhundert galt das islamische Recht in der gesamten islamischen Welt. Es war nicht
kodifiziert. Der Rechtsprechung lag ausschließlich die Lehrtradition der Rechtsschulen zugrunde.
Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wurden in fast allen Staaten der islamischen Welt bis auf das Fa-
milien- und Erbrecht weite Teile der Rechtspflege dem Anwendungsbereich der Scharia entzo-
gen. Seit dem Zweiten Weltkrieg wurde das islamische Familien- und Erbrecht in vielen Staaten zu
staatlichem Recht. Die Türkei schaffte die Scharia 1926 als Gesetzesgrundlage vollständig ab und
führte ein auf dem schweizerischen Recht basierendes Zivilgesetzbuch ein. In Saudi-Arabien da-
gegen gilt die Scharia uneingeschränkt. Andere Staaten (etwa Pakistan und Sudan) haben be-
schlossen, die Scharia zur Grundlage der Rechtsprechung zu machen. Die Wiedereinführung der
Scharia in allen Rechtsgebieten gehört zu den Hauptforderungen des islamischen Fundamenta-
lismus.
2. Rechtliche Vorschriften der Scharia
In Deutschland können Vorschriften der Scharia nach dem deutschen Internationalen Privatrecht
(IPR) zur Anwendung kommen. Das deutsche IPR bestimmt, welches staatliche Recht bei Fällen
mit Auslandsbezug anzuwenden ist (Art. 3 Abs. 1 Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetz-
buch (EGBGB)). Ausgangspunkt des IPR ist der Gedanke der Gleichwertigkeit aller Rechtsord-
nungen. Das traditionelle islamische Recht ist außerstaatliches Recht. Es kann daher nach dem
deutschen IPR nur soweit angewendet werden, als es zum Recht des jeweiligen Staates geworden
ist. Nach Art. 6 EGBGB ist eine Rechtsnorm eines anderen Staates nicht anzuwenden, wenn ihre
Anwendung zu einem Ergebnis führt, das mit den wesentlichen Grundsätzen des deutschen
Rechts offensichtlich unvereinbar ist (Ordre-public Vorbehalt). Sie ist insbesondere nicht anzu-
wenden, wenn die Anwendung mit den Grundrechten unvereinbar ist. Nach der Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichts sind andere Maßstäbe anzulegen als bei der Rechtsanwendung in
einem reinen Inlandsfall, so dass bei ganz oder überwiegend auslandsbezogenen Sachverhalten
eine differenzierte Anwendung der Grundrechte im Rahmen ihrer aus der Verfassung selbst zu
entwickelnden Reichweite geboten sei. Je stärker der Inlandsbezug ist, umso stärker setzen
sich die deutschen Rechtsvorstellungen durch. Kriterien dafür sind u. a. Aufenthaltsdauer,
westliche Lebensweise, Ausbildung, Schul- oder Hochschulbesuch in Deutschland, Bindung an
das Heimatland. Eindeutig ist dies bei Vorschriften bzw. Auslegungen der Scharia, die evident
menschenrechtswidrig sind und/oder Frauen diskriminieren. Zu den Normen der Scharia zählen
jedoch auch die - unproblematischen - religiösen und privatrechtlichen Vorschriften.
Die deutschen Gerichte und Behörden müssen sich daher mit den Vorschriften der Scharia des
Herkunftslandes auseinander setzen, wenn sie über Voraussetzungen für die Eheschließung,
Nr. 85/08 (16. Dezember 2008)
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eine Scheidung, über das Sorgerecht für die Kinder oder in Erbrechtsfällen zu entscheiden ha-
ben. Die in der Scharia vieler Länder vorgesehene Ungleichbehandlung nach Geschlecht und
Religionszugehörigkeit erfordert die Prüfung einer möglichen Grundrechtsverletzung der Betrof-
fenen im Rahmen des Ordre-public Vorbehalts. Beispielsweise steht den Frauen nach islamischem
Recht selten ein Scheidungsrecht zu, während dem Mann weitestgehende Freiheit in der Form der
Verstoßung (Talaq) zugebilligt wird. In einem Scheidungsverfahren prüfen daher die Gerichte, ob
ein Verstoß gegen die Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 GG, gegen den Gleichbehandlungs-
grundsatz aus Art. 3 GG und gegen die Eheschließungsfreiheit aus Art. 6 GG vorliegt. Islamische
Vorschriften, die im Falle der Scheidung pauschal dem Mann das Sorgerecht für die Kinder zubilli-
gen, verstoßen gegen das Grundrecht der Kinder auf freie Entfaltung der Persönlichkeit.
Nach dem deutschen IPR ist im Erbrecht das Recht des Staates anzuwenden, dessen Staatsan-
gehörigkeit der Erblasser zum Todeszeitpunkt besaß. Das deutsche Erbrecht erlaubt weitgehende
Testierfreiheit, der Erblasser kann daher innerhalb der Grenzen des Pflichtteilsrechts unter sei-
nen Erben differenzieren. Die im islamischen Recht auffälligen Ungleichbehandlungen auf
Grund des Geschlechts treten beispielsweise auf, wenn Söhne und Töchter zu Erben berufen
sind und den Töchtern nur die Hälfte des Erbteils eines Sohnes zusteht. Eine solche Ungleichbe-
handlung verstößt gegen Art. 3 GG und ist daher nicht anzuwenden. Der Pflichtteil des überle-
benden Ehegatten und der Kinder des Erblassers ist grundrechtlich durch Art. 14 GG geschützt.
Eine vollständige und kompensationslose Pflichtteilsentziehung nächster Angehöriger verstieße
daher bei ausreichendem Inlandsbezug gegen den Ordre-public Vorbehalt.
Des Weiteren knüpft islamisch orientiertes Erbrecht unterschiedliche Rechtsfolgen an die Religi-
onszugehörigkeit. Zulässig ist, dass der Erblasser lediglich nach der Religionszugehörigkeit der
Erben unterscheidet. Will er aber mit seiner Erbeinsetzung Einfluss auf die religiöse Entschei-
dungsfindung des Erben nehmen, er also dessen Überzeugung durch eine bedingte Erbeinsetzung
„kaufen“, verstößt die Erbeinsetzung gegen den Ordre-public und ist nichtig.
3. Mehrehe
Nach der Scharia ist die Mehrehe mit bis zu vier Frauen erlaubt. In Deutschland ist es verboten,
eine Mehrehe zu schließen. Im Sozialrecht ist sie insofern anerkannt, als eine im Ausland wirk-
sam geschlossene Mehrehe Ansprüche mehrerer Ehegatten auf Witwenrente oder Witwerrente
nach dem Sozialgesetzbuch begründet. Diese Ansprüche werden anteilig und endgültig aufgeteilt,
so dass auch beim Tod eines Ehegatten die hinterbliebenen Gatten weiterhin nur ihre anfänglich
berechneten Ansprüche erhalten. Nicht anerkannt wird die Mehrehe in solchen Fällen, in denen
aus der Einehe Privilegien abgeleitet werden wie beispielsweise im Steuer- oder Aufenthaltsrecht.
Nach § 30 Abs. 4 Aufenthaltsgesetz wird keinem weiteren Ehegatten eine Aufenthaltserlaubnis
erteilt, wenn ein in polygamer Ehe lebender Ausländer bereits mit einem Ehegatten in der Bundes-
republik lebt.
4. Religiöse Vorschriften der Scharia
Die religiösen Vorschriften der Scharia genießen den Schutz der Religionsfreiheit des Grund-
gesetzes nach Art. 4 GG.
Dazu gehören Regeln über Gebet, Moscheebau, Gebetsruf, Bekleidungssitten, Fasten, Bestattungswesen. In seinem sog. Kopftuchurteil entschied das Bundesver-
fassungsgericht im Jahr 2003, dass ein Verbot für Lehrkräfte, in Schule und Unterricht ein Kopf-
tuch zu tragen, eine hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage erfordert. Daraufhin haben ein-
zelne Bundesländer gesetzliche Grundlagen für Verbote von religiösen Bekundungen im Schul-
dienst geschaffen.
Quellen:
- Andrae, Marianne, Anwendung des islamischen Rechts im Scheidungsverfahren vor deutschen Gerichten, NJW
2007, S. 1730 ff.
- Brockhaus Enzyklopädie, Band 13, 21. Auflage 2005, S. 555 ff.
- Pattar, Andreas Kurt, Islamisch inspiriertes Erbrecht und deutscher Ordre public, 2007.
- Scholz, Peter, Islam-rechtliche Eheschließung und deutscher Ordre public, in: Das Standesamt 2002, S. 321 ff.
Verfasser: ORRn Elisabeth Delfs, geprft. RK Sebastian Janzen, Fachbereich WD 3, Verfas-
sung und Verwaltung