Broder hat wieder einmal einen Artikel in der Welt verfasst, der den Nagel auf den Kopf trifft!

Die EU löst keine Probleme, sie ist das Problem

Eine Auszeichnung für die Europäische Union? Seit dem Ende des real existierenden Sozialismus ist jene der massivste Versuch, die Bürger zu entmündigen und die Gesellschaft zu entdemokratisieren. Von Henryk M. Broder

Foto: picture alliance / dpa Hauptsitz der Kommission in Brüssel: Wäre die EU ein Staat, würde sie sich wahrscheinlich selbst wegen ihres Demokratie-Defizits gar nicht aufnehmen

Ein altes russisches Sprichwort sagt: Es gibt keine hässlichen Bräute, es gibt nur nicht genug Wodka. Für die Wirtschaft gilt das nicht. Man kann sich keine schlechte Stimmung schönfeiern, nicht einmal, wenn man die Betriebsfeier in einen ungarischen Puff verlegt. Mies bleibt mies.
Man kann auch nicht in aller Ruhe und Gemütlichkeit "Oh, du schöne Weihnachtszeit" singen, wenn man weiß, dass beim Nachbarn die Hütte brennt. Denn man ahnt, dass das Feuer entweder auf das eigene Haus übergreifen wird oder dass man die obdachlos gewordenen Nachbarn bei sich wird aufnehmen und verpflegen müssen.
Wir erleben die letzten Tage Europas. Nicht im physischen, eher im philosophisch-metaphorischen Sinne. So wie Karl Kraus in seinem 1922 erschienenen Monumentalwerk "Die letzten Tage der Menschheit" vorhersah, so liegen "Die letzten Tage Europas" unmittelbar vor uns. Nein, sie liegen nicht einfach da, sie springen uns geradezu an.

Der Nobelpreis an Europa – welch eine alberne Idee!

Ich habe Letztens die Übertragung der Feier zur Übergabe des Friedensnobelpreises an die Europäische Union gesehen, live im Fernsehen, und wusste nicht, ob ich weinen oder lachen sollte. Die EU auszuzeichnen, weil sie den Frieden in Europa bewahrt habe, ist so albern, als würde man die Heilsarmee dafür auszeichnen, dass sie nicht in das Geschäft mit Alkohol, Drogen, Nutten und Waffen eingestiegen ist.
Oder als würde man das Internationale Rote Kreuz dafür ehren, dass es keine Konzentrationslager betreibt. Im Übrigen ist das friedliche Europa nicht der Garant des Friedens, sondern das Ergebnis einer militärischen Intervention, ohne die wir heute nicht so gemütlich beisammensitzen würden, und falls doch, dann vermutlich nur, um den letzten erfolgreichen Einsatz der Legion Condor zu feiern.

Ehre für die EU
Merkel und Hollande Hand in Hand beim Nobelpreis
Die Verleihung des Friedensnobelpreises an die EU erinnerte mich an irgendwas, das tief in meinem Gedächtnis abgespeichert war. Und weil ich müde war, dauerte es eine Weile, bis die Erinnerung den Weg an die Oberfläche geschafft hatte.

Wie damals in der Sowjetunion

Ja, das war es! Genauso feierte das ZK der Kommunistischen Partei der Sowjetunion sich selbst! Man verlieh sich gegenseitig Orden und bestätigte sich reihum, einen extrem wichtigen Beitrag zum Frieden und zur Sicherheit in Europa und in der Welt geleistet zu haben.
Als jemand, der die ersten Jahre seines Lebens in Polen verbracht hat, habe ich eine leichte Allergie gegen den Begriff "Frieden". Nicht weil ich für den Krieg bin, sondern weil "Frieden" das General-Alibi ist, mit dem jede Barbarei gerechtfertigt werden kann. Auch die Berliner Mauer wurde uns als eine friedensstiftende beziehungsweise friedenserhaltende, in jedem Falle aber unvermeidliche, heute würde man sagen: alternativlose Maßnahme präsentiert.

Wissen
Blick zurück auf Geschichte der Europäischen Union
Und wenn ich mir heute die Aktionen der Friedensbewegung anschaue, die dem Massaker in Syrien ungerührt zuschaut, aber nicht müde wird, gegen den Einsatz deutscher Soldaten in Afghanistan zu demonstrieren, dann weiß ich, dass Pazifismus und Kretinismus nahe Verwandte sind.
Einen Tag nach der Preisverleihung in Oslo, der Hauptstadt eines Landes, dessen Bevölkerung zweimal den Beitritt zur EU abgelehnt hat, las ich in der "Welt" einen Artikel über den Brüsseler "Jahrmarkt der Eitelkeiten", auf dem bis zum letzten Moment darüber gestritten und gefeilscht wurde, wer bei der Preisverleihung reden und die Auszeichnung entgegennehmen darf.

Jahrmarkt der Eitelkeiten

Der Präsident der EU-Kommission, Barroso, der Ratspräsident Van Rompuy und der Präsident des Parlaments, Schulz hätten trotz voller Terminkalender "wie die Kesselflicker" gestritten und versucht, einander auszustechen. Bis schließlich, wie in Brüssel üblich, ein Kompromiss gefunden wurde. Van Rompuy und Barroso nahmen die Urkunde gemeinsam entgegen, wobei Van Rompuy sie als Erster berühren durfte.
Vermutlich durfte er sie auch mit nach Hause nehmen, sie dort kosen und herzen und sie schließlich unter sein Kopfkissen legen. Martin Schulz musste sich damit zufrieden geben, seinen Kopf für eine Medaille am Halsband hinhalten zu dürfen. Immerhin. Aber am Ende gab es ein Gruppenfoto, das Einheit und Einigkeit suggerierte – auch dies eine weitere Parallele zu den Sitten im ZK der KPdSU.

Mangel an demokratischer Substanz

Wie es der Genosse Zufall will, haben Hamed Abdel-Samad und ich Martin Schulz vor Kurzem besucht, um ihn für eine Folge unserer "Europa-Safari" zu interviewen. Dabei sagte er uns unter anderem auch folgenden Satz: "Wäre die EU ein Staat und würde einen Antrag zum Beitritt in die Europäische Union stellen, dann würde der Antrag abgelehnt. Mangels demokratischer Substanz." So habe zum Beispiel das EU-Parlament kein Recht, Gesetze zu initiieren, es segne nur die Beschlüsse der Europäischen Kommission ab.

Brüssel
Merkel stimmt Europa auf harte Zeiten ein
Einer der Abgeordneten, die wir trafen, sprach von einem "Protokollparlament" und fühlte sich an die Zustände in der Volkskammer der DDR erinnert. Ein Kommissar erklärte uns, warum kein Widerspruch darin liege, dass die EU den Anbau von Tabak subventioniert und zugleich Kampagnen über die Gefahren des Rauchens finanziert. Das sei doch eine Win-win-Situation, von der alle profitieren würden. Und im Übrigen sei ein Kommissar für die Tabaksubventionen und ein anderer für die Anti-Rauch-Kampagne zuständig.

Bei Europa haben wir keine Wahl

Seit unserem Besuch in Brüssel und Straßburg gebe ich mich keinerlei Illusionen mehr hin. Die EU löst keine Probleme, sie ist ein Problem. Seit dem Ende des real existierenden Sozialismus, zu dem es nach Meinung seiner Repräsentanten ebenfalls keine Alternative gab, ist die EU der massivste Versuch, die Bürger zu entmündigen und die Gesellschaft zu entdemokratisieren.
Man erklärt uns immer wieder, es gebe zur EU keine Alternative, denn das Auseinanderfallen der Union würde nicht nur das Ende des Wohlstands bedeuten, sondern auch das Aufleben längst überwundener Konflikte. In die Praxis umgesetzt bedeutet das: Wir sind aufgefordert, bedingungslos jenen zu vertrauen, die den Karren an die Wand gefahren haben und nun versichern, sie wären in der Lage, die Reparatur zu übernehmen.

Foto: pa/dpa/dpa ZB Henryk M. Broder

Aber: Würden wir einem Arzt eine zweite Chance geben, der uns statt der Mandeln den Blinddarm entfernt hat? Nein, würden wir nicht. Aber wenn es um Europa geht, tun wir es, weil wir eben keine Wahl haben. Die Sache ist alternativlos. Also machen wir weiter - nicht weil wir davon überzeugt sind, dass es richtig ist, sondern weil wir den Point of no Return überschritten haben.
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